386 Bushaltestellen gibt es in Tübingen, mehr als das Jahr Tage hat! Ihnen ist diese Serie gewidmet, denn sie haben Interessantes zu erzählen. Was steckt hinter ihren Namen? Was verraten sie über unsere Stadt? Wo findet man die schönsten Aussichten? Auf zu einer besonderen Stadtrundfahrt!
FOLGE 3:
Wilhelmstraße – von Blauen Bändern, Tübingens ersten Bussen und Verkehrsproblemen vor 100 Jahren
Diesmal wagen wir uns mitten hinein, auf Tübingens wichtigste Verkehrsachse und besuchen die vielbenutzte Haltestelle „Wilhelmstraße“. Auch ich warte hier oft, wenn ich auf dem Nachhauseweg nach Lustnau bin.
Damit gehöre ich zu den mehr als 2.500 Personen, die hier tagtäglich einsteigen, um in die Stadteile im Norden, Westen und Osten zu gelangen. 19 TüBus-Linien, zwei Regional- und vier Nachtbuslinien bedienen die „Wilhelmstraße“, insgesamt also 25 Linien – sagt TüBus-Kollege und Verkehrsplaner Lars Hilscher. Tagsüber, zwischen 6 und 20 Uhr, halten hier 61 Busse pro Stunde. Jede Minute einer. Durchschnittlich steigen jeweils 2,7 Fahrgäste ein, und 0,9 Fahrgäste aus, rechnet er vor.
So wie ich verbindet auch Lars mit dieser Haltestelle noch immer das Café „Schöne Aussichten“. Das war einmal. Heute wartet man vor der „Shooters Bar“, die nur abends offen hat. „Früher konnte man bequem auf der kleinen Terrasse sitzen und Kaffee trinken, bis der richtige Bus kam. Oder wegen der dichten Taktung dann eben der nächste, oder der übernächste“, so Lars.
Trotzdem gibt die Aussicht vom Haltestellen-Bänkle Einiges her:
Eine Stadtführung im Sitzen
Direkt vor mir leuchtet zwischen der Bus- und der Autospur der neue Fahrradweg, Teil des künftigen Tübinger Superradwegenetzes. Das „Blaue Band“ ist eher noch ein blaues Fetzchen, denn es endet sehr schnell schon wieder. Ob sich Busse und Radler, die PKW und Taxis hier vertragen? Mir hat das erste Drüber-Radeln neulich gut gefallen, auch wenn das Queren der Busspur am Ende nicht so ohne ist. Verkehrsplaner Lars, selbst passionierter Radler, wünscht sich hier mehr Rücksichtnahme: „Es wäre besser, die Radfahrenden würden einfach vorgelassen.“ Für problematischer hält er das Schimpf-Eck, wo Radler trotz Fahrradschleuse und früherer Grünphase oft von den stärkeren Fahrzeugen überholt würden. „Dann aufs Blaue Band zu kommen, ist nicht einfach. Hier ist bei allen Verkehrsteilnehmern Umsicht geboten.“
Eines ist wohl sicher: Straßenbahnschienen werden wir hier nach dem jüngsten Bürgerentscheid nicht so bald sehen. Dabei hätten hier schon vor mehr als 100 Jahren eine Tram oder Oberleitungsbusse fahren sollen. Eine Machbarkeitsstudie, bis ins Kleinste ausgetüftelt vom damaligen Stadtwerke-Direktor, wurde 1910 vom Gemeinderat abgelehnt – zu teuer! Denn Zuschüsse für den ÖPNV konnten sich die Stadtväter noch so gar nicht vorstellen.
Wer ist bloß dieser Willi?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir gedanklich fast 200 Jahre zurückgehen in eine Zeit, in der Tübingen sich gewaltig ausdehnte. Die alten Stadtmauern und -türme wurden abgerissen – zu eng war die Altstadt geworden. Vor allem die Universität brauchte Platz. Und so bebaute man das Ammertal und legte 1843 eine neue, schnurgerade Hauptstraße an. Bis dahin war die Landstraße nach Stuttgart durch die feuchten Wiesen der Ammer-Schleife verlaufen.
Ihren Namen erhielt die neue Wilhelmstraße nachKönig Wilhelm I. von Württemberg, was seine Majestät „gnädigst gestattete“. Dieser Wilhelm, Vater der liberalen Landesverfassung, Finanzsanierer und Verwaltungsreformer hatte sich auch als Bauherr hervorgetan – ja, es ist der von der „Wilhelma“, seinem maurischen Stuttgarter Privatschlösschen. Später bekamen auch zwei seiner Gattinnen, die Königinnen Katharina und Pauline „ihre“ Straßen in der Südstadt.
1839 reiste Wilhelm I. höchstselbst nach Tübingen, um den Standort der Neuen Aula, ein Werk seines Hofbaumeisters Barth, zu besichtigen, 1845 kam er zur Einweihung. Das war der Anfang. Es folgten Universitätsklinik, verschiedene Institute, auf der Österberg-Seite stattliche Bürgerhäuser. Die „Wilhelmsvorstadt“ erkennen wir gut am ordentlich-rechtwinkligen Straßenmuster. Keine geringere als die Berliner Allee „Unter den Linden“ hatten die Stadtplaner als Vorbild im Sinn. Zwar klagten anfangs einige Professoren über die ungewohnt weiten Wege, doch die Wilhelmstraße wurde zur „akademischen Laufbahn“, an der sich nach und nach viele weitere Uni-Bauten aufreihten. Auch heute strömen an der Bushaltestelle viele Studierende vorbei.
Von der Muse geküsst: Literatur und Schweinestall
Lange erreichte man die Wilhelmstraße nur durch die Gassen der Altstadt, denn erst 1887 war die Mühlstraße durchgebrochen. Am Schimpf-Eck standeinmaldas Lustnauer Tor, das der Universitätskanzler von Autenrieth erworben hatte, um sich aus dem Abbruchmaterial ein luxuriöses Wohnhaus zu bauen (später wiederum umgestaltet von Fritz Schimpf). Schon am Beginn der Wilhelmstraße hängt alles irgendwie mit Literatur oder Wissenschaft zusammen: die Antiquariate, das ehemalige Osiander-Haupthaus, der Mohr-Siebeck-Verlag und natürlich das „Museum“, das niemals Museum war, sondern ein „Haus der Musen“, errichtet 1821. Die feine Museumsgesellschaft war anfangs ein Literaturclub zur Erbauung der gebildeten Kreise, pflegte die Geselligkeit mit Bällen und Billard, Vorträgen und Musikgenuss. Auch eine Gastwirtschaft gehörte dazu, deren Pächter im Garten an der Wilhelmstraße eine Zeitlang sogar Schweine hielt, bis der Gemeinderat das in den 1930er-Jahren untersagte.
Illustrer Tummelplatz für „Ballerspiele“
Direkt gegenüber meiner Wartebank: der Alte Botanische Garten – gerade in den Schlagzeilen als „Party- und Prügelpark“, als nächtliche Feierzone. Sein Vorgänger war bis 1806 der „Tummelgarten“, wo sich die adeligen Studenten des „Collegium Illustre“ (Wilhelmstift) für Kämpfe und Turniere fit machten: Ein Reithaus gab es, Armbrust- und Büchsenschießplätze. Heute sind eher Slackline und Wikingerschach angesagt in dieser grünen Oase mit ihren dauerbelegten Wiesen, Parkbänken und dem Spielplatz – „Tummelgarten“ trifft es eigentlich genau. Ich werde nie vergessen, wie ich hier mal eine halbe Ewigkeit lang aufgeregt meinen vierjährigen Sohn gesucht habe, der auf einen Baum geklettert war und nicht mehr runterkam.
Busgeschichte beim Warten auf den Bus
Nochmal werfe ich die Zeitmaschine an und überlege, was ich wohl früher von meinem Bänkchen aus gesehen hätte – außer Fußgängern. Zu „Willis“ Zeiten und noch lange nach ihm waren Pferd und Kutsche die Verkehrsmittel der Wahl. Doch schon die ersten Omnibusse in Tübingen fuhren 1911 durch die Wilhelmstraße: dreimal täglich bis Degerloch, zur Zahnradbahn nach Stuttgart. Ansonsten wären Ochsenkarren, Pferdefuhrwerke und Handwagen, Viehtreiber und natürlich Fahrräder an mir vorbeigezogen. Und das Zeitalter des Automobils kündigte sich an. Als „Kraftdroschken“ (Taxis) und PKWs Tübingens Straßen eroberten, entstand in der Wilhelmstraße die passende Infrastruktur: 1923 eröffnete der Stuttgarter Autohändler Michel in der Nr. 8 das erste Tübinger Autohaus, die „Kraftfahrzeug- und Zubehör-Großhandel GmbH“. Auch Reparaturwerkstätten ließen sich hier und in der nahen Brunnenstraße nieder.
Der TüBus wird geboren!
1927 führte Tübingens erste Stadtbuslinie – wie sollte es anders sein – durch die Wilhelmstraße. Der Göppinger Kaufmann Robert Bauer hatte den „Omnibusverkehr Tübingen“ gegründet, mit zwei 16-Sitzern, die von Lustnau nach Derendingen pendelten. Rasch wurde auf sechs Busse erweitert. Noch fehlten gekennzeichnete Bushaltestellen. Der Verkehrsverein forderte sie unermüdlich, mehr als sieben Mal diskutierte der Gemeinderat darüber. Als sie nach zwei Jahren endlich standen, wurden einige kurz darauf von Studenten verbogen und demoliert. Die Haltestelle „Wilhelmstraße“ gab es da noch nicht – sie lag etwas näher am Lustnauer Tor und hieß (wie auch der Platz) „Hindenburgplatz“. 20 Pfennig hätte ich damals für mein Ticket bezahlt.
Verkehrsprobleme der 1920er- und 1930er-Jahre
Zehn Haltestellen und sechs Busse gab es in den 1920er-Jahren (heute: 386 Haltestellen, 67 Busse, 40 Linien). Arg bequem war das Busfahren nicht, auch der Zustand der Straßen ließ zu wünschen übrig. So war die Wilhelmstraße nur in ihrem ersten Teil, wo ich jetzt sitze, mit Granitsteinen gepflastert – ab der Neuen Aula folgte in Richtung Lustnau festgewalzter Schotter.
Der gesamte Durchgangsverkehr von Stuttgart nach Rottweil bündelte sich auf der Achse Wilhelmstraße – Neckarbrücke. Die Anwohner fühlen sich vom Lärm der Kraftfahrzeuge und vom aufgewirbeltem Straßenstaub „aufs Stärkste und Unangenehmste belästigt“. Auch die Universität schloss sich dem Protest an, forderte Tempolimits und regelmäßiges Nässen der Straße.
Achtung, Feinstaub!
Bereits 1924 hatte Hygiene-Professor Wolf ein Gutachten zum Wilhelmstraßen-Feinstaub verfasst. Dieser enthielt Abfallstoffe aller Art, vor allem pulverisierten Tier- und Menschenkot – von Pferden, von den Tieren, die man zum Schlachthof trieb, und aus undichten Güllefässern der Weingärtner, die „nur allzu deutliche Spuren“ zurückließen. „Diese Kotteilchen trocknen ein, werden auf dem Straßendamm pulverisiert und durch Luftzug aufgewirbelt. Sie (…) werden dabei von den Atemwegen der Menschen (…) aufgenommen und dringen in die Wohnungen ein.“ Der Staub setze sich überall ab, reize die Schleimhäute und führe zum gefürchteten „Tübinger Katarrh“. Ob man damals schon mit Mund-Nasen-Masken reagierte? Da scheinen mir die nach Euro 6 supergefilterten Dieselabgase unserer TüBusse nichts dagegen. Der Gemeinderat beschloss damals, den nicht gepflasterten Teil der Wilhelmstraße zu teeren.
Tempolimits und „der Moloch Verkehr“
Für Lastkraftwagen und Busse galt 1926 ein Tempolimit von „kurzem Trab“, also 20 Stundenkilometer, lese ich in den Ortspolizeilichen Vorschriften, die auch den Reitverkehr, das Führen von Rindvieh und „Zughunden“ regelten. Noch waren Kraftfahrzeuge in der Minderheit. 1930 hieß es dann in den Tübinger Blättern: „Der Verkehr ist zum Tyrannen des Menschen geworden und hat ihn in Fesseln geschlagen“. Vor allem der Hindenburgplatz stünde kurz vor dem Verkehrsinfarkt: „In unaufhörlicher Folge ziehen Scharen von Radfahrern, geräuschvollen Motorradfahrern, Personen- und Lastkraftwagen jeglicher Bauart vorüber, nur selten unterbrochen von einem Pferde- oder Kuhfuhrwerk oder gar von einem Handwagen. Der Schutzmann, der den Verkehr zu regeln hat, hat kaum ein Ruhepause.“
Die stets überfüllten Omnibusse verschafften wenig Erleichterung. Dass Tübingens erster Busunternehmer Bauer ohne Subventionen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, war nur eine Frage der Zeit. 1937 übernahm der junge Jakob Kocher aus Ehningen/Donau, später stieg der Busunternehmer und Mostproduzent Paul Schnaith mit ein. Das soll an anderer Stelle erzählt werden. Heute führen die Stadtwerke Regie im ÖPNV. Und bei den minütlich vorbeirauschenden Bussen erkenne ich an der kleinen Aufschrift der Fahrertür, ob sie nun Kocher, Schnaith oder den swt gehören.
20 Millionen Fahrgäste befördern sie in „normalen“ Jahren – für Tübingens Klimaziele sollen es noch mehr werden.
Meine Lieblingsbilder sind die von der vielbefahrenen Lustnauer-Tor-Kreuzung in den 50er-Jahren. Noch war die Wilhelmstraße keine Einbahnstraße, erst 1969 sorgte der Schlossbergtunnel für Entlastung. Die zunächst umstrittene Fußgängerzone bescherte in den 70ern der Altstadt eine neue Aufenthaltsqualität. „Mehr Mensch, weniger Blech!“ war die Devise, und so stoppte 1979 ein Bürgerentscheid die geplante vierspurige Nordtangente am Rand der Altstadt – eine Wahnsinnsidee aus heutiger Sicht.
Und jetzt? Wird sogar über eine komplett autofreie Wilhelmstraße diskutiert. Das Blaue Band ist nur der Anfang. Frühlingstraum und Sehnsucht nach mehr. Bald werden wir vor „Willis Aula“ vielleicht wieder flanieren wie 1845, als die Tübinger Prachtmeile ganz neu war.
Welche ist eure Lieblings-Bushaltestelle? Wo hattet ihr besondere Begegnungen? Welchen Namen hättet ihr gerne erklärt? Schreibt uns!
Nächster Halt: eine Geschichte. Hier geht’s zu weiteren Folgen!
Quellen:
– Stadtwerke Tübingen (Hrsg.) 90 Jahre TüBus 2017 bzw. Der TüBus und seine Geschichte 2007
– TüPedia
– Tübinger Blätter 1930
– H.-J. Lang über das erste Tübinger Autohaus, Schwäbisches Tagblatt, 24.10.1998