383 Bushaltestellen gibt es in Tübingen, mehr als das Jahr Tage hat! Ihnen widmen wir eine neue Serie, denn sie haben Interessantes zu erzählen. Was steckt hinter kuriosen Namen? Was verraten sie über unsere Stadt? Wo findet man die schönsten Aussichten? Auf zu einer besonderen Stadtrundfahrt!
FOLGE 1:
„Deichelweg“, Lustnau (Linien 21, 22)
Wer mit dem TüBus der Linie 21 oder 22 an der Ammer entlang in Richtung Alte Weberei fährt, hält am „Deichelweg“. Der mündet hier in die Nürtinger Straße. Sein Name entführt uns in eine Zeit, in der es fließendes Wasser aus dem Hahn noch nicht gab.
Der Brunnen als Chatroom
Wie oft am Tag drehe ich den Hahn auf? Wie oft laufen bei uns Dusche, Spülmaschine, Klospülung? Keine Ahnung. Wasser ist ja immer da – und das natürlich in einwandfreier Qualität. Bewusst wird uns das höchstens dann, wenn wir unsere Komfortzone verlassen und im Ausland mal mit Mineralwasser Zähne putzen müssen. In früheren Zeiten war das auch hier anders, so wie man es aus fernen Ländern kennt. Trinkwasser holte man am nächsten öffentlichen Brunnen. „Man“ – das wäre in unserer Familie wohl ich gewesen. Denn meist war das Wasserholen Aufgabe der Frauen, Kinder oder Dienstboten, die tagein, tagaus mit den Eimern loszogen, bei Wind und Wetter, oft durch schlammige Gassen. Trinken, Kochen, Spülen, Waschen, Putzen – nichts ging ohne den Gang zum Brunnen. Wer hin und wieder Kanister zu seinem „Stückle“ oder „Gütle“ schleppt, kann das nachvollziehen. So manchen modernen „Luxus“ hätte man sich verkniffen. Täglich duschen? – ach woher! Aber eine gute Seite hatte das: Am Brunnen traf man andere, tauschte Neuigkeiten aus. Der Dorfbrunnen war DAS Kommunikationszentrum, der Ort für Neuigkeiten und Klatsch, ein analoger Chatroom, der Menschen zusammenbrachte.
Und auch wenn sie für die Versorgung längst nicht mehr lebenswichtig sind: Auch heute haben Brunnen diese soziale Komponente noch. Ein Platz taugt nichts, wenn da kein Brunnen steht. Sprudelndes Wasser schafft Atmosphäre, da muss man nur mal schauen, wo sich die Leute versammeln, wenn die Cafés zu haben: Rund um die Brüstung des Neptunbrunnens auf dem Marktplatz ist immer was los.
Schöpfen, Ziehen, Laufen – und wo bleibt der Deichel?
Doch wandern wir auf der Zeitleiste wieder zurück ins Mittelalter. Brunnen gab es ja vielerlei: Mir kommt spontan das Bild eines Ziehbrunnens in den Sinn, wie in „Frau Holle“ und im „Froschkönig“ – tiefgründig, dunkel und symbolgeladen. Mit Kette, Winde und Eimer musste das Grundwasser aus der Tiefe hochgezogen werden. So sahen auch bei uns die ältesten Brunnen aus. Später gab es dann Schwengelpumpen, doch das Wasser war oft genug mit Vorsicht zu genießen, vor allem wenn in der Nähe Unrat im Boden versickerte. Besser waren da schon die „Laufbrunnen“, die in Tübingen ab dem 15. Jahrhundert eingerichtet wurden und Quellwasser aus den umliegenden Bergen lieferten. In Brunnenstuben gefasst, wurde dieses über Berg und Tal in die Stadt geführt. Allein durch Druck und Gefälle. Dafür nutzte man hölzerne Röhren, so genannte – Tada! – „Deicheln“.
Die Uni hatte die längste Leitung
Man nehme: Kiefer- oder Fichtenstämme, möglichst ohne Astlöcher, 40 cm dick, 2 bis 4 m lang, durchbohre sie längs, stecke sie ineinander – fertig ist der Deichel!
Die längste dieser hölzernen Leitungen in Tübingen besaß die Universität: Von der Morgenstelle bis ins Stift und weiter zur Autenrieth‘schen Klinik in der Burse maß sie fast 3 Kilometer! Doch zurück nach Lustnau: Damit fertige Deicheln nicht porös wurden, musste man sie ständig feucht halten und lagerte sie in „Deichelseen“, bis sie bei Leitungsbau oder bei Reparaturen zum Einsatz kamen. So einen soll es hier gegeben haben. Der Deichelweg erinnert daran (und zwar seit 1945. Vorher hieß er „Sofienstraße“ nach der württembergischen Prinzessin und Wohltäterin der Sophienpflege, wie uns der Tübinger Stadtführer und Straßenforscher Dr. Helmut Eck verriet).
Materialschwäche schlägt auf den Magen
Leider waren Deicheln nicht besonders haltbar. Sie faulten schnell, wurden undicht, nach 10 bis 15 Jahren musste man sie auswechseln. Damit das leichter ging, verlegte man sie in nur 30 cm tief. Nicht ideal, denn so froren sie im Winter oft ein. Das wertvolle Wasser versickerte oder wurde verschmutzt und kam ungenießbar am Brunnen an. Fadenwürmer, Magen- und Darmerkrankungen waren an der Tagesordnung – da nützten auch die strengen Brunnen-Verordnungen nichts. Vieh tränken? Wäsche waschen? Verboten! Wächter hüteten die städtischen Brunnen. Um die Wasserqualität zu überprüfen, halfen mitunter auch Fischlein. Schwammen sie munter im Brunnen umher, war alles okay. Keine Ahnung, ob man das in Tübingen so gemacht hat.
Lang ersehnt: das Ende der Brunnenzeit
Wasserknappheit und mangelnde Hygiene machten immer wieder Probleme. Und obwohl sich im 19. Jahrhundert etliche schlaue Universitätsprofessoren und Staatsingenieure mit der Wasserfrage befassten, war es ein beschwerlicher Weg bis zur zentralen Wasserversorgung. 1879 war es soweit: Das erste Tübinger Wasserwerk ging in Betrieb, bestehend aus einer Pumpstation in der Südstadt (heute Ebertstraße) und einem Hochbehälter auf dem Österberg. Von dort strömte das Wasser in gusseisernen Leitungen in die angeschlossenen Häuser. Die Zeit der Deicheln war vorbei. Ungeahnter Komfort zog ein. In Lustnau allerdings noch nicht …
Wenn alle Brünnlein fließen …
Viele Brunnen sieht man noch heute in Lustnau, allein sieben stammen aus dem 19. Jahrhundert. Mehrere wurden (und werden) von Quellen der Weiherhalde oberhalb des Klärwerks gespeist. Von unserer Haltestelle „Deichelweg“ aus finden wir den nächsten, wenn wir dem Weg einfach bergauf bis zur Dorfstraße folgen. Der hübsche Brunnen, der Wasser aus einem Löwenmaul speit, wäre vielleicht auch für mich als „Lustnauerin“ die Anlaufstelle der Wahl gewesen. Als sich die Tübinger schon über „Trinkwasser frei Haus“ freuen durften, blieb hier noch alles beim Alten. 1905 plante der Gemeinderat dann, neue Quellen zu erschließen, zumal sich einige Firmen ansiedeln wollten, wie die Frottierweberei Jope (später Egeria).
Bilder oben: Lustnauer Brunnen aus dem 19. Jh. an der Steige (ohne Wasser, mit Autorin) und in der Kreuzstraße, geschmückt mit dem Hirschkopf des Ortswappens. Unten: Moderne Beton-Nixen, wo einst die Bier gebraut wurde
Den gewünschten Anschluss an den Wasserbehälter auf dem Österberg bekamen die Lustnauer zwar nicht, stattdessen 1910 eine eigene Pumpstation mit Brunnenschacht am Goldersbach Richtung Bebenhausen. Wer dort schonmal gewandert ist, kennt vielleicht das hübsche Schlemppbrünnele in der Nähe. Zu den größten Abnehmern gehörte die damalige Brauerei zum Ochsen Carl Heinrich (wo sie einst stand, parke ich heute, wenn ich im Lustnauer Zentrum einkaufen gehe). Für die Bierkühlung gab es am Goldersbach übrigens auch einen „Eissee“, wo winters das Eis beschafft wurde. Doch ich schweife ab … Auch in Lustnau war nun die Zeit der Brunnenversorgung und Deicheln vorbei. Und heute wird der größte Tübinger Stadtteil – wie fast die ganze Stadt – aus dem Wassermischbehälter Sand versorgt. 75 % Bodensee, 25 % Neckartal, 100 % Spitzenqualität (Ausnahme: Für den Herrlesberg wird die nahe Bodenseeleitung direkt angezapft).
Jederzeit bestes Trinkwasser frisch aus dem Hahn – nichts ist für uns normaler. Dahinter stecken mehrere Jahrhunderte Technik-Geschichte und viele Menschen, bei den Stadtwerken und der Bodenseewasserversorgung, in Tiefbaufirmen und Analyse-Laboren. Wer mit dem TüBus am Deichelweg vorbeifährt, denkt vielleicht das nächste Mal daran.
TIPP! Schönes in der Nähe: Vom Deichelweg weiter ins Egeria-Viertel (Alte Weberei) fahren, sich auf den Platz oder auf die Neckarstufen setzen und dieses alte/neue Stückchen Tübingen genießen!
Quellen: Stadtwerke Tübingen (Hrsg.), Trinkwasser für Tübingen. 125 Jahre Tübinger Wasserversorgung, 2004; TüPedia
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