Der Strom kommt aus der Steckdose – aber wie kommt er da rein? Davon handelt diese Serie, die dem Weg des Stroms folgt und dabei die Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen beleuchtet. Diesmal geht es zum Tübinger Neckarwerk, das Strom aus Wasserkraft erzeugt. Klimaschonend, erneuerbar und schon seit langer Zeit. Seit 1911 gibt es das Kraftwerk in der Brückenstraße. Es ist ein technisches Denkmal – und doch aus unserer Stromversorgung nicht wegzudenken. Gerade sanieren es die Stadtwerke, um es effizienter und ökologischer zu machen. Die Fische können bald in beide Richtungen wandern. Und wusstet ihr, dass wir ohne das Neckarwerk gar nicht Stocherkahn fahren könnten?

Wenn ihr am Tübinger Neckarufer flussabwärts spaziert, seht ihr es schon von Weitem: das gelbe Gebäude des Neckarwerks samt Stauwehr und Steg und der neuen Fahrradbrücke. Und vielleicht habt ihr in den letzten Monaten auch die Baustellen rings umher bemerkt. Was dort gerade passiert, will ich herausfinden.
Ich nähere mich der Anlage von Lustnau her über die Gartenstraße. An diesem Flussabschnitt wurde in den letzten Jahren viel geschafft: Das Land Baden-Württemberg hat den seit Jahrzehnten begradigten Neckar aufwändig „revitalisiert“, ihm also ein natürlicheres Erscheinungsbild zurückgegeben. Dazu komme ich später nochmal.
Frischekur fürs Neckarwerk
Jetzt stehe ich auf dem Vorplatz des Neckarwerks und schaue aufs Stauwehr. Hier ist so Einiges im Gange seit dem Sommer 2024: Die Stadtwerke bauen die Außenanlagen komplett um. Tübingens ältestes Wasserkraftwerk bekommt eine Frischekur. Es ist nun seit genau 114 Jahren in Betrieb. Immer wieder wurde es modernisiert, zuletzt 1995, als die Fischtreppe gebaut und die Anlage unter Denkmalschutz gestellt wurde.

Und wie funktioniert das?
Ralph Raisch ist Projektleiter für Anlagentechnik, betreut das Kraftwerk seit vielen Jahren und kennt seine Tücken genau.
Er erklärt mir, wie das alles funktioniert – und das ist eigentlich ganz einfach, auch für Technikbanausen wie mich. So ein „Laufwasserkraftwerk“ nutzt die Strömung des Flusses aus. Das Wasser wird vom Wehr aufgestaut – 4,30 Meter hoch – und dann durch einen kurzen Kanal zum Maschinenhaus geleitet. Dort fällt es in die Tiefe und treibt dabei zwei Turbinen an. Generatoren wandeln deren Drehbewegungen dann in Strom um. Die, zwei orangefarbene Ungetüme, kann ich im Maschinenhaus sehen.
Die Ausbeute? Rund 3 Millionen Kilowattstunden im Jahr, Strom für etwa 700 Familien.


So weit, so gut. Hier drin ist fast alles beim Alten geblieben. Die Neuheiten besichtigen wir gleich draußen: eine moderne Rechenanlage und – erstmals an dieser Stelle – Fischabstiege.
Der Ketten-Krimi
Doch zuvor muss Ralph mir noch etwas anderes zeigen: Denn kurz bevor die Sanierung losgehen konnte, hatte er noch ein anderes Problem zu lösen: Im Dezember 2023 war ein angeschwemmter Baumstamm am Wehr steckengeblieben. Beim Versuch, ihn zu befreien, riss eine der gewaltigen Ketten der Wehrwalzen, die den Durchfluss regulieren. Jahrzehnte lang hatte sie ihren Dienst getan. Gar nicht so einfach, einen Betrieb aufzutreiben, der so etwas schmieden kann! Fündig wurde Ralph im Sauerland – und ließ gleich sämtliche anderen Ketten mit erneuern. Das geschah im Frühjahr 24.









Wir schauen kurz ins Wehrhäuschen, das da mitten über dem Fluss thront. Hier wird also der Flusspegel eingestellt! Drinnen sieht man die 100 Jahre alten Zahnräder und Walzenantriebe: Die funktionieren immer noch. Und die nigelnagelneue Kette natürlich.

Von Rechen, Tauchern und Fischern
Zurück am Kanal bewundere ich nun die Umbauten, die hier seit dem vergangenen Sommer passiert sind. Da ist zuerst die neue Rechenanlage. Zwei hydraulische Rechenreiniger verhindern, dass Laub, Äste oder sonstiges Zeugs, das im Fluss daher treibt, in den Turbinen landet. Wie große Kämme kämmen sie all das heraus, automatisch, ganz nach Bedarf. „Nach 30 Jahren waren die alten Rechen so ziemlich am Ende und Ersatzteile nicht mehr zu haben“, erzählt Ralph. Ich staune, wie aufwändig es war, sie zu ersetzen: Man musste ja erst den Kanal trockenlegen, dafür mit einem großen Kran eine Trennwand einziehen, ein so genanntes Nadelwehr aus Alu-Rohren, und alles abdichten. Taucher waren da im Einsatz, der Fischereiverein kam zum Abfischen.














„Wasserbau ist immer sehr aufwändig“, sagt Ralph. Im Herbst war die neue Rechenanlage an ihrem Platz. Der Vorteil: Sie leitet das Schwemmgut wieder zurück in den Fluss – das ist besser fürs Ökosystem. „Vorher wurde es über ein Band in einen Müllcontainer befördert, und wir mussten das dann entsorgen“, so Ralph. Weiterer Vorteil: Ein Rechengang dauert nur noch zwei statt fünf Minuten. So strömt mehr Wasser auf die Turbinen – und erhöht den Stromertrag.
Die Leitwarte hat auch die Wasserkraft im Blick
Und wenn trotzdem was steckenbleibt? „Siehst du die Kameras?“ Überwacht und gesteuert wird das Neckarwerk von der Leitwarte der Stadtwerke. Die Kolleginnen und Kollegen dort haben den Neckarpegel, die Rechen und die Stromerzeugung stets im Blick. Der Wasserstand darf nur wenig schwanken. Bei starkem Hochwasser werden sie abgeschaltet und das Wehr geöffnet, damit das Wasser abfließen kann. Entdeckt die Leitwarte größere Gegenstände – Äste, einen Stocherkahn (auch das kam schon vor) – informieren sie den Bereitschaftsdienst. Ralph und sein Team aus der Anlagentechnik, das alles hier instand hält, kommen ohnehin auf ihren täglichen Rundgängen vorbei.


Ende der Einbahnstraße für Fische
Besonders stolz ist Ralph auf den neuen Fischabstieg. Der wurde dort installiert, wo früher das Förderband lief. Und sogar noch ein zweiter tief unten am Grund des Kanals, speziell für die Aale. Das gab’s vorher noch nicht. Fische aus Richtung Rottenburg kamen nur gut durch, wenn die Walzen – etwa bei Frühjahrshochwasser – hochgezogen wurden. Aufwärts hingegen konnten sie über die Fischtreppe aus den 90ern wandern. Haben sie das denn getan? „Zu sehen ist das schlecht, die Fische wandern ja vor allem nachts“, sagt Ralph. Aber es gab da einen Reiher, der hatte seinen Stammplatz am oberen Ende der Fischtreppe und lauerte wie am Buffet auf Ankömmlinge – dann muss doch was dran sein. 😉
Aktuell haben die Fische Schonzeit. Von Oktober bis Mai pausiert die Baustelle. Im Juni geht’s weiter, dann nehmen sich die Stadtwerke die Fischtreppe, also den Fischaufstieg vor. Das obere Ende kann ich neben dem Kanal schon sehen.








Schöner wandern!
Hier gelten inzwischen neue Standards. Länger und breiter als zuvor soll der neue Aufstieg werden. Und die Mauer zum Neckar hin höher. Um sie zu errichten, wird sogar eine provisorische Rampe für die Baufahrzeuge nötig sein. Warum überhaupt, frage ich mich – die Fischtreppe sieht doch hübsch aus, mit ihren Steinstufen erinnert sie an einen kleinen Bach. Ralph erzählt, dass die Monteure den angespülten Kies immer wieder mühsam aus der Rinne schaufeln müssten. Das wird bald nicht mehr nötig sein. Die neue Treppe wird unten eine Kurve beschreiben und dadurch eine „Lockströmung“ erzeugen, die den Fischen den Weg weist: „Da muss ich hin“, denkt so ein Fisch dann und findet den Weg nach oben besser. Statt der Steinstufen sollen ihm vertikale Schlitze und Ruhrbecken den Aufstieg erleichtern.

Die Fische werden sich freuen. Und auch Ralph freut sich über diese ökologische Aufwertung. „Ich bin aber froh, dass wir hier keine strenggeschützten Biber haben!“ Dann wäre der Umbau so gut wie unmöglich gewesen. Seit fünf Jahren begleitet ihn dieses Projekt nun schon. Und der „bürokratische Wahnsinn“, der damit einherging. Sämtliche gesetzlichen Vorgaben, Zuständigkeiten und Genehmigungsverfahren im Blick zu haben – das hat die Vorbereitungen knifflig und langwierig gemacht. „Das ging bis zu Anträgen für einzelne Fischarten“, seufzt Ralph und lobt zugleich die gute Kooperation mit Landratsamt und Fischereibehörde. Nun ist er auf der Zielgeraden: Ende 2025 soll alles fertig sein.
Ökosystem Neckar
Wasserkraftwerke greifen arg ins Ökosystem eines Flusses ein. So ein Stauwehr behindert nicht nur die Fische bei ihren Wanderungen, im regulierten Fluss ändern sich auch die Strömungsverhältnisse. Glücklicherweise hat sich unterhalb des Tübinger Stauwehrs im flachen Wasser ein einzigartiger Lebensraum entwickelt, mit Kiesbänken, wo unzählige Insektenlarven, Muscheln und Krebstiere zu finden sind. Hin und wieder kann man sie bei Führungen des Kreisfischereivereins kennenlernen.
ACHTUNG! Ohne Profi-Begleitung dürft ihr euch nicht unterhalb des Wehrs aufhalten! Denn ändert sich der Durchfluss, kann es zu einer plötzlichen Flutwelle kommen.



Den Fluss wiederbeleben
Weiter flussabwärts, jenseits der Tennisplätze, war das anders, seit der Neckar Mitte der 1930er-Jahre in ein enges, schnurgerades Bett gezwängt worden war. Das Land Baden-Württemberg hat viel investiert, um den Fluss hier wieder natürlicher zu gestalten. Im Sommer 2024 wurde die „Revitalisierung“ abgeschlossen: Der Neckar schlängelt sich seither um zwei neue Inseln herum, das Bett ist breiter und leicht geschwungen. Das sehe ich vom Steg aus gut. Projektleiter Sebastian Krieg vom Regierungspräsidium fasst die Maßnahmen für mich zusammen: „Begonnen haben wir Anfang 2023: Zuerst die Fläche geräumt, eine Baustraße eingerichtet, die Ufer gerodet. Für die großflächigen Erd- und Wasserbauarbeiten waren schweres Gerät und über drei Monate LKW-Fahrten im 5-Minuten-Takt nötig! Die Uferböschung haben wir mit Holzstämmen, Kokosmatten und Bepflanzung stabilisiert, Mauern zum Hochwasserschutz errichtet und einen Uferweg angelegt.“ Im Fluss sieht man Steinelemente in Hufeisenform – die sollen die Strömung lenken.
An den Inseln bieten Strukturen aus Ästen Tieren Unterschlupf. „Die größte Herausforderung war die Logistik, besonders die Eingriffe in den Verkehr und der gleichzeitige Bau der Fernwärmeleitung beim B12. Dazu kamen noch Hochwasser“, sagt Sebastian Krieg. Am Ruderverein entsteht nun noch die neue Fußgängerbrücke. Dann ist es an der Stadt Tübingen, den „Flusspark Neckaraue“ anzulegen, damit man auch am neuen Neckar entlangspazieren kann. Leider ist die Finanzierung noch nicht gesichert.
👉 Eine kleine Doku könnt ihr hier anschauen
Welche Rolle spielt die Wasserkraft?
Wasser als Energiequelle zu nutzen, ist eine jahrtausendealte Idee. Heute gibt es in Deutschland mehr als 7.000 Wasserkraftwerke, vor allem im Süden. Doch längst steht die Windkraft an erster Stelle der erneuerbaren Energien. Auch bei den swt ist da so. Kaum 3 Prozent des Ökostroms, den wir selbst produzieren, stammt aus unseren beiden Tübinger Wasserkraftwerken, dem Neckarwerk und dem an der Rappenberghalde.


Blick in die Geschichte: Wie der Neckar früher aussah
Wusstet ihr, dass erst mit dem Neckarwerk das Tübinger Stadtbild so entstanden ist, wie wir es heute kennen? In früheren Zeiten sah der Neckar völlig anders aus, wild und breit und recht flach, mit großen Kiesbänken, vielen Flussarmen und Schwemmland, das bei Hochwasser überflutet wurde. Bei jeder Frühjahrsflut suchte sich der Fluss ein neues Bett.
In Hirschau gab es zwölf Brücken über die vielen Flussarme. Kein Wunder, entstanden Reitwege und Straßen eher auf der Höhe. Günstige Gelegenheiten, den Neckar zu überqueren, gab es nur wenige. An einer solchen Furt war Tübingen gegründet worden. (Auch der Name „Kirchentellinsfurt“ erinnert an das „Tal in die Furt“, wo man gut über die Echaz kam.) Nur mit flachen Kähnen ließ sich der Neckar befahren. Flößer aus dem Schwarzwald flößten Holz herbei für den Bau der Stadt und weiter bis nach Holland, für die Pfähle Amsterdams und die Schiffswerften. Um die Jahrhundertwende betrieben die Stadtwerke Kiesbagger im Fluss!



Tübingens „neue Mitte“
Einen naturbelassenen Fluss – das sieht man in Deutschland kaum noch. Ich kenne das von der Loire in Frankreich. Schon im 18. Jahrhundert wurde der Neckar oberhalb Tübingens gezähmt und kanalisiert für neues Ackerland, Dämme wurden errichtet. Und 1847 – die Industrialisierung lässt grüßen – wurde erstmals darüber diskutiert, die Kraft des Wassers zu nutzen. 1902 hielt Elektrizität in Tübingen Einzug, geliefert vom dampfbetriebenen E-Werk in der Nonnengasse. Noch war Strom reinster Luxus. Dann kam die Osram-Glühlampe – elektrisches Licht wurde billiger. Der Strombedarf wuchs. Doch woher nehmen? Der damalige Oberbürgermeister Hermann Haußer schrieb in seinem Büchlein zur „Neckarcorrektion“, 1906 habe der „langgehegte Wunsch, den untätig vorbeifließenden Neckar endlich einmal zu wirtschaftlicher Arbeit zu zwingen“ Gestalt angenommen. Das „ruhelose Bestreben der Gemeindeverwaltung“ führte 1908 zum Beschluss der größten Baumaßnahme, die die Stadt je gesehen hatte: der Neckarkorrektur zur Errichtung eines Wasserkraftwerks.
Und nun ging‘s los: Das Flussbett wurde komplett umgestaltet, die Mündungen von Steinlach und Mühlbach verlegt. Ein Flutkanal machte die Platanenallee zur Insel. Alleen und Sportplätze entstanden, plus 40 Hektar hochwasserfreies Bauland, wo bald Gebäude in die Höhe wuchsen: Keplergymnasium, Uhlandbad, Offizierscasino. Auf dem Unteren Wörth, wo bisher die Soldaten exerzierten, entstanden Friedrich-, Schaffhausen- und Bismarckstraße.


Strom für die ganze Stadt
Sinn und Zweck des Ganzen waren Stauwehr und Wasserkraftwerk. Am 30.12.1911 wurde das „Neckarwerk“ feierlich eingeweiht und als „großes Kulturwerk“ gepriesen. Die Turbinen (Typ Francis) waren zwar lange nicht so stark wie die heutigen – doch sie konnten tatsächlich den gesamten Strombedarf der Stadt decken! Es gab auch nur knapp 1.000 Stromkunden damals. Drei Monate später verkündete die Tübinger Chronik: „Die neue Neckaranlage arbeitet tadellos, man hat immer einen Überschuss. Es werden 60.000 M der Stadtpflege überwiesen.“






Den schönen Strom hätte der damalige Werksleiter sehr gern für eine Straßen- oder Oberleitungsbahn genutzt – der Gemeinderat war dagegen. Ohnehin reichte auch das Neckarwerk nicht lange aus. Vom schier unstillbaren Stromhunger und von spannenden Innovationen an diesem Kraft-Standort am Fluss will ich ein anderes Mal erzählen …
Oder live am 10. Mai: Da feiern die Stadtwerke einen Wasserkraft-Erlebnistag mit Führungen zur ökologischen Sanierung. Ralph Raisch und Sebastian Krieg sind auch mit dabei.
Lust, hinter die Kulissen zu schauen?
Am 10. Mai könnt ihr live erleben, wie Tübingen Strom macht – und wie Fische dabei ihren Weg finden.
swtue.de/wasserkraft-erleben
Neckarwerk in Zahlen
Quellen:
Stadtwerke Tübingen (Hrsg.) Energisch für Tübingen. 140 Jahre Gas, 100 Jahre Strom, 2002
Hermann Haußer: Tübinger Neckarcorrektion. Sonderdruck Tübinger Chronik. Dezember 1911.
https://www.kreis-tuebingen.de/landkreis_+landratsamt/kultur/aus+der+geschichte+des+landkreises/Geschichte_+Neckar
Zur Autorin:
Birgit Krämer ist immer wieder fasziniert davon, wie die Geschichte der Stadtwerke und der Stadt Tübingen ineinandergreifen. Zum Beispiel davon, dass der Bau eines Kraftwerks so einen hübschen Ort wie die Plataneninsel zur Folge hatte. 😊
Mehr zum Thema Stromerzeugung und weitere Folgen der Serie findet ihr hier: