Nächster Halt: eine Geschichte (7) – Von Turnern, Kraftdroschken und Affen. Busbahnhof und Busfahren früher

386 Bushaltestellen gibt es in Tübingen, mehr als das Jahr Tage hat! Ihnen ist diese Serie gewidmet, denn sie haben Interessantes zu erzählen. Und weil manche Orte besonders viele Geschichten in sich tragen, geht es heute noch ein zweites Mal an unseren „ZOB“, den Omnibusbahnhof, den wir Ende Juli nach langem Umbau mit einem so fröhlichen Fest neu eingeweiht haben. Wie sah es hier früher aus, als 1960 der Omnibusbahnhof entstand? Oder noch früher, als die allerersten Busse hier abfuhren? Ich will mit euch im Fotoalbum blättern und eine Runde drehen durch Tübingens Verkehrsgeschichte.

In der letzten Folge habe ich davon berichtet, wie sich der Europaplatz vor dem Tübinger Hauptbahnhof gerade in einen vielversprechenden Stadteingang verwandelt, wie unser neuer ZOB aussieht und wer alles mitgewirkt hat an seiner Entstehung, von den ersten Vorplanungen bis zu den letzten Stromanschlüssen. Die aufregende Nacht der großen Umstellung zum 27. Juli ist geschafft. Die Einweihung hat Tausende Neugierige und Feierlustige angezogen: Ahs und Ohs in der Fahrradtiefgarage und vor der See-Fontäne, entspannte Café-Besucher, rockende Bands und viele, viele Kinder, die an unserem swt-Glücksrad drehen wollten. Nun drehen die TüBusse ihre ganz neuen Runden, und inzwischen ist auch die erste Verwirrung überwunden, die einige leider noch unfertige Steige verursacht hatten. Die Fahrgäste, die Fahrerinnen und Fahrer können sich in der ruhigeren Ferienzeit an die neuen Wege und Abläufe gewöhnen, bis es im September dann wieder rund geht.

Der ZOB der kurzen Wege, übersichtlich, sicher und barrierefrei, im Juli ’23. (Bild: V. Marquardt)

Hans Zeutschel ist Stadtwerke-Bereichsleiter Verkehr und Geschäftsführer der swt-Tochter TüBus. Auf den neuen ZOB hat er sich sehr gefreut – ebenso wie sein ganzes Team: „Die haben sich alle richtig ins Zeug gelegt und die große Betriebsumstellung teils schon sehre lange vorbereitet.“ Hat alles gut geklappt. Die Erleichterung ist groß.

Ich finde es fabelhaft, was aus diesem früher so tristen, funktionalen, manchmal nervigen Platz geworden ist. Ein „Übergangsort“ der eher unangenehmen Sorte war der alte ZOB für mich. Wo man zwangsweise Zeit verbringen musste, auf dem Weg von A nach B. Am besten mit der Nase im Buch oder aufs Handy starrend. Nix wie weg hier. Und jetzt? Will man gerne verweilen, sich einen Kaffee gönnen. Und wenn erst der Park fertig ist …

Wisst ihr überhaupt noch, wie es hier aussah, bevor die Bagger kamen? Und davor?

Wisst ihr noch?

Wie ihr das schon von mir kennt, möchte ich den Blick noch weiter in die Vergangenheit lenken. Und die ist überraschend und hält so manches Déjà-vu bereit. Denn nicht erst heute, sondern immer wieder hat sich Tübingen seinen Stadteingang neu erfunden. So alle 50 bis 60 Jahre. Das verrät viel vom jeweiligen Zeitgeist.

Tatsächlich hat das Feiern und Flanieren an diesem Ort Tradition. Und haben nicht unsere Eltern als Kinder hier sogar Affen bestaunt? Ja, das Gelände vor dem Bahnhof wurde schon auf vielerlei Art genutzt – bis 1960 der erste Omnibusbahnhof entstand.

Wie hat das eigentlich mal angefangen mit den Bussen hier? Wir machen ein großen Zeitsprung!

Alles hängt mit dem Bahnhof zusammen. Natürlich. Der kam 1861 und verschaffte Tübingen Anschluss an die große, weite Welt. Wer hier ausstieg, ging meist zu Fuß weiter oder fuhr mit der Pferdekutsche. Wäre ich damals unter den Zug-Passagieren gewesen, hätte ich erstmal viel Grün gesehen – hier waren nämlich die sumpfigen Neckarauen, der so genannte „Mittlere Wöhrd“. Der Anlagenpark war noch Zukunftsmusik, aber es gab prächtige Alleen, gleich mehrere parallel, die Anfang des 19. Jahrhunderts zur Stadtverschönerung angelegt worden waren: die Kastanienallee (heute Europastraße), die zum Hotel Goldener Ochse (heute Kaufhaus Zinser) führte, die Akazienallee (heute Uhlandstraße) und die noch bestehende, wohlbekannte Platanenallee. Auf dem Bild hier kann man das gut sehen.

Ich hätte damals die mäßig befahrene Bahnhofstraße überqueren müssen, dann den schnurgeraden Fußweg zu den Alleen und weiter in die Stadt genommen. Ein befahrbarer Platz existierte noch nicht. Auf den „Wöhrdwiesen“, genau da, wo später der Busbahnhof hinkam, wurden Feste gefeiert, es gab  Sänger- und Turnertreffen, Freilichttheater und Kasperle im Sommer und eine große Schlittschuhbahn im Winter.

Kein Verkehr weit und breit. Dafür wurde auf den Wöhrdwiesen gefeiert und sogar geturnt, wie diese Aufnahme eines Gauturnfestes zu Anfang des Jahrhunderts zeigt. Das Bahnhofsgebäude ist hinter den Bäumen zu erkennen. Das Foto haben wir in einem alten Tübingen-Buch meines Kollegen Uli entdeckt.

Besonders repräsentativ war die Bahnhofsgegend nicht, das fand man schon um 1900 und plante eine komplette Neugestaltung – das klang beinahe genauso wie heute: Ziel sei es, „einen für eine Stadt würdigeren Eintritt als es bis jetzt war und leider noch ist, zu erstellen“, lese ich in den Tübinger Blättern von 1901. Darin präsentierte Universitätsgärtner Schelle vom Verschönerungsverein seinen Entwurf einer Parkanlage mit See. Der Park könne „zum Kleinod werden“, der Stadt „zu großer Zierde gereichen“ und „der Bevölkerung als Erholungsstätte“ dienen. Und so entstanden bis 1908 – schon in Hinblick auf die bevorstehende große Neckarkorrektur – die „Anlagen“ mit dem „Anlagensee“. (Über diesen Namen, der eigentlich keiner ist, hab ich mich als Neutübingerin immer gewundert. Aber man hängt dran, wie eine Umfrage vor einiger Zeit bestätigt hat.)

Schauen wir auf den Plan von damals und die Erklärung dazu, fällt eins auf: Der Verkehr schien nicht wirklich eine Rolle zu spielen. Drei Straßenübergänge für Fußgänger waren vorgesehen, einige „Wagen der Gasthöfe“ sollen sich aufstellen können. Das war alles? – Nicht ganz: Tatsächlich äußerte man vorsichtig: „auch der Anfahrt einer etwaigen Straßenbahn“ stünde nichts entgegen. Doch der ÖPNV ließ noch eine ganze Weile auf sich warten. 1909 scheiterte ein Straßenbahn-Projekt, das Otto Henig, der Leiter des Elektrizitätswerks, akribisch ausgearbeitet hatte – schließlich versprach das geplante Neckarwerk Strom im Überfluss. Die Pläne waren schnell vom Tisch. Zu aufwändig. Zu teuer. (Kommt euch das auch bekannt vor?) Auch eine schienenlose elektrische Variante plante der umtriebige Werksleiter, doch der Gemeinderat lehnte ab. Inzwischen kündigte sich in Tübingen das Zeitalter des Automobils an. Vor den Bahnhof warteten statt der Pferdekutschen motorisierte „Kraftdroschken“ (so hießen die Taxis) auf Fahrgäste.

1914 gab es immerhin einen Pferdebus zu den Kliniken (Bild: Gebr. Metz)

Auch Zweiräder waren präsent: Schon in den 1880er-Jahren hatte die Firma Trautwein ihren Sitz in der Karlstraße 2 in Bahnhofsnähe bezogen, wo sie Nähmaschinen, Waschmaschinen und Fahrräder anbot, auch umfassenden Service und Radfahrunterricht. (Eine Waschanlage für Fahrräder, wie es sie an unserer neuen Radstation gibt, war nicht dabei – hätte aber hervorragend ins Sortiment gepasst.)

Der TüBus wird geboren 

Als die ersten Linienbusse am Bahnhof hielten, schrieb man das Jahr 1927. Der Göppinger Kaufmann Robert Bauer hatte die Gesellschaft „Omnibusverkehr Tübingen“ gegründet, mit Firmensitz im Gasthof zum Ochsen in Lustnau. Zuerst pendelten zwei Omnibusse zwischen Lustnau, dem Bahnhof und Derendingen hin und her. Schnell kamen vier weitere Fahrzeuge und neue Verbindungen dazu.

Aushangfahrpläne? Wo denkt ihr hin! Haltestellenschilder? Fehlanzeige! Der Verkehrsverein mahnte sie unermüdlich an, schrieb etwa im Oktober 1928: „Ein Fremder, der den Bahnhof verlässt, wird durch nichts auf die Bequemlichkeit hingewiesen, die ihm der Omnibusverkehr (…) bietet.“ Erst Ende 1929 ließ die Stadt Schilder aufstellen – wenig später landeten einige, von Studenten demoliert, im Anlagensee.

„Beef“ mit Bussen

Über Jahrzehnte existierte vor dem Bahnhof nicht wirklich Platz für die Busse. Sie hielten entlang der Bahnhofstraße und machten den „Kraftdroschken“ Konkurrenz. Das gab oft Streit, denn manche Droschkenführer passten die Wartenden ab und unterboten die Ticketpreise. Wäre ich damals in den Bus nach Lustnau gestiegen, hätte ich für meine Fahrt 20 Pfennig bezahlt (klingt günstig, doch das täuscht. Heute fahren wir billiger). Und so arg bequem war das alles nicht: Die Busse mit ihren nur 16 Plätzen waren meist überfüllt. Man war angehalten, Körbe auf dem Kopf zu tragen. Und viele Tübinger Straßen waren noch gar nicht gepflastert. Das rumpelte gewaltig.

Im Archiv sind erboste Schriftwechsel zwischen dem Firmenchef Bauer und der Bahnstation erhalten: Die beklagte sich nämlich über das Wenden der Busse vor dem „Bahnhofs-Abort“. Das störte. (Am neuen ZOB liegt der Wendekreis genau an jener Stelle.) Das Wendemanöver wurde vor den Bahnübergang beim heutigen Wildermuth-Gymnasium verlegt – doch schon kam die nächste Beschwerde: Die Busse dürften keinesfalls auf die Gleise fahren und sollten auf die Derendinger Brücke ausweichen. Welche Schikane! So viele Leerkilometer! Die Lösung war ein Einbahn-Verkehr: Die Busse fuhren eine Schleife über die Uhland- und die Rottenburgerstraße zum Bahnhof, dann über Karl- und Mühlstraße zurück in die Stadt.

Dass Tübingens erster Busunternehmer ohne Subventionen in wirtschaftliche Nöte geriet, war nur eine Frage der Zeit. Nach zehn Jahren, 1937, war er pleite. Es übernahm der junge Jakob Kocher aus Ehningen/Donau, etwas später bekam der Busunternehmer, Kolonialwarenhändler und Mostproduzent Paul Schnaith seine Konzession.

Ein Kocher-Bus auf der Haltespur am Hauptbahnhof 1949. Leider angeschnitten das Banner, das für Messe „Die Frau und ihr Heim“ wirbt: „Jeder 500. Besucher erhält eine gebratene Mastente“ (Bild: Omnibus Kocher)

Wirtschaftswunder und Verkehrsnöte

Wir drehen die Uhr weiter in die Zeit des Wirtschaftswunders, des Baubooms und der Reiselust. Tübingen wuchs, ebenso der Autoverkehr und dessen Folgen: Lärm, Abgase, chronischer Parkplatzmangel. Buslinien erschlossen die neuen Wohngebiete. Und die Unternehmer Kocher und Schnaith fuhren ab 1953 im Auftrag der Stadt. Die führte einen Taktfahrplan und das Umsteigen mit einer Fahrkarte ein. Zuschüsse für den ÖPNV waren nicht drin, folglich auch keine großen Sprünge im Angebot. Immerhin: 1958 fuhren 1,4 Millionen Menschen mit. Obwohl die inzwischen 9 Linien jetzt Nummern bekamen, wurde es auf den Haltespuren vor dem Bahnhof unübersichtlich, die Busse standen sich gegenseitig im Weg, und es wurde klar: Ein Omnibusbahnhof musste her!

Verkehr am Lustnauer Tor 1959 (A. Göhner, Stadtarchiv Tübingen)

Intermezzo: Der Tübinger „Bahnhof Zoo“

In den 1950er-Jahren gab es zwar noch keinen Busbahnhof, dafür aber einen Zoo an ebendieser Stelle! Ihr habt richtig gehört! Miriam Plappert hat im Februar 2020 im Tagblatt sehr anschaulich davon geschrieben. Auf dem Grünstreifen zwischen Anlagensee und Hauptbahnhof, wo es vor dem Krieg zeitweise ein Hirsch-Gehege gegeben hatte, wurde er 1948 eingerichtet, gerade mal 100 auf 30 Meter groß. Initiator und „Zoo-Papa“ war der bereits 75-jährige Theodor Widmann, ehemals Zoodirektor in Brasilien. Auf einer Fläche, kleiner als ein Fußballfeld, lebten 250 Tiere aus aller Welt, hat Miriam Plappert recherchiert: Rhesus-Äffchen und Paviane, ein Lama aus Peru, afrikanische Zwergziegen, japanische Kormorane, Schlangen, Rehe, Esel, Biber, Waschbären, Meerschweinchen, Pfauen und Singvögel, Amazonasfische und argentinische Vogelspinnen. Liebling der Kinder war der tanzende Braunbär Robert. Und die Ponys zum Reiten. Das Geld war stets knapp, die Stadt gab Zuschüsse, Schulkinder sammelten Maikäfer als Tierfutter. Zum Geldmangel kamen bald Beschwerden über die Haltungsbedingungen. 1955 beschloss der Gemeinderat das Aus für den Zoo. Die Gebäude wurden abgerissen, alle Tiere verkauft. Anlass war auch der Ausbau der Rottenburger- und Bahnhofstraße. Inzwischen war mit den Neubauten von AOK und Gesundheitsamt die Bebauung  näher an den See herangerückt. Und Neues kündigte sich an.

„Tübingens neue Visitenkarte“

Im Herbst 1959 rückten die Bagger an und wühlten sich in die Wiesen. Für den Bau des Zentralen Omnibusbahnhofs am Postplatz, wie er damals hieß, wurde der südliche Teil der Anlagen geopfert. Die meisten Kastanien der Allee gefällt, die Bahnhofstraße zu „Europastraße“ verbreitert. Das sorgte schon damals für Protest. „Lebhafte Auseinandersetzungen“, heißt es im Verwaltungsbericht 1955-60. Bäume fielen auch für Unterführung und Gaststätte. Dafür wurden im Anlagenpark Wege und Rasenflächen erweitert, der See ausgebaggert und entschlammt.

Der Busbahnhof im Bau. Die künftigen Steige sind gut zu erkennen (Tübinger Blätter 1960).

Am 23. Dezember 1960 ging der neue Omnibusbahnhof in Betrieb. Eine halbe Million Mark hatte er gekostet. „Großzügig dimensioniert“ sollte er sein. Das war er ohne Frage. Einen riesigen Platz mit nur wenigen Bussen sehe ich auf den Fotos der 1960er-Jahre. Damals fuhren im Stadtverkehr gerade einmal 15 Fahrzeuge (heute sind es fünfmal mehr!). Neben den neun Stadtbus-Linien gab es die Regional- und Fernbusse. Neu waren die „Insel-Steige“, die Wartehäuschen, die Fußgängerunterführung zum Park. 1961 wurden das Bahnhofsvordach mit Kiosk darunter und die Parkgaststätte fertig – innen Bierstuben-Ambiente mit Holz und Buntglasfenstern.

„Tübingens neue Visitenkarte“ titelte das Schwäbische Tagblatt im Oktober 1961. Und im April 1962: „Damit hat der Platz vor dem Bahnhof endlich das Aussehen erhalten, das sich eine Universitäts- und Fremdenverkehrsstadt wünscht“. Urban und schick fand man den neuen Stadteingang. Nun ja. Eine ziemliche Asphaltwüste war das, finden wir heute.

Neben den Oldie-Bussen und VW Käfern sehen wir Herren mit Hut und Damen mit Petticoat auf den Fotos: Willkommen im Jahr 1961! Da hieß der Bundeskanzler noch Adenauer, der US-Präsident Kennedy. Elvis sang „It’s now or never“, Freddy Quinn „La Paloma“. Wer erinnert sich?

1966 wurde der Postplatz in „Europaplatz“ umbenannt. Man gab sich weltgewandt – mit gutem Grund: Gerade war Tübingen vom Europarat in Straßburg mit dem Europapreis geehrt worden und feierte Europatage mit illustren Gästen aus den Partnerstädten. (Die fuhren nicht den Bus, sondern mit Pferdekutschen zum Picknick im Schönbuch)

Wie ging es weiter? Schnelle Fahrt durch die Jahrzehnte

Die Blechlawinen nahmen zu, trotzdem stellte ein Gutachten 1967 in Tübingen ein nur „geringes Bedürfnis“ nach öffentlichem Verkehr fest. Die meisten Ziele seien ja zu Fuß prima in 20 Minuten zu erreichen. 20 Minuten! Neben dem Trend zum eigenen Auto wurde als Grund auch das Fernsehen genannt. Das war zwar noch schwarz-weiß, aber seit Start des ZDF 1963 gab es ja nun zwei Programme! Da bleibt man doch lieber zuhause, um Luis-Trenker-Filme zu schauen oder sich bei „Ein Platz für Tiere“ mit Professor Grzimek an den Tübinger Zoo zu erinnern!

„Wer in der Neckargasse nicht erstickt, der wird auf dem Holzmarkt überfahren.“
(Spruch aus den 1960ern)

Immerhin wurden Teile der Altstadt autofrei: Anfang der 1970er entstanden erste Fußgängerzonen. 1972 wurde die erste reine Busspur eingerichtet, gleich um die Ecke vom ZOB, an der Einmündung der Post- in die Friedrichstraße.

25 Linienbusse waren damals auf elf Linien unterwegs. Noch ließ das Angebot zu Wünschen übrig. „Der Nahverkehr fährt hin und her, doch meistens sind die Busse leer“, schrieb das Tagblatt 1975, denn er fahre „an seinen Aufgaben vorbei“, sei verworren und unpraktisch, das Umsteigen beschwerlich. Ein Gutachten brachte die Schwächen und Möglichkeiten auf den Punkt. Kernaussage: Der Stadtverkehr muss attraktiver werden, doch die Privatunternehmer Kocher und Schnaith können ihn nicht ohne Subventionen betreiben. Kurz: doppelte Dichte – doppelte Kosten. Erstmals gab die Stadt Zuschüsse, übernahm Planungskosten und führte Verbesserungen ein.

Der ZOB 1975 (Bild: M. Grohe)

Wäre ich 1978 am Bahnhof angekommen, hätte ich in einen der ersten Tübinger Gelenkbusse einsteigen können, die „Großstadtflair“ verbreiteten, wie man fand. Und ich hätte meinen Fahrschein in einem der nigelnagelneuen Fahrkartenentwerter abgestempelt.

Die 1980er-Jahre brachten Anti-Atomkraft und Neue Deutsche Welle, Computer und Karottenhose. Und für den Tübinger Stadtverkehr einen großen Wurf mit dem bahnbrechenden Konzept des städtischen Verkehrsplaners Wolfgang Lang 1985: durchgehenden Linien, besseres Umsteigen, kürzere Takte, ein flächendeckendes Netz. Nirgends ist die nächste Bushaltestelle mehr als 300 Meter entfernt.

Die Busse wurden als „TüBus“ in zahlreichen Kampagnen beworben, und sie wurden einheitlich rot-gelb. Warum? Ganz einfach: Das sind die Farben des Tübinger Wappens! Monats-, Jahres- und Sonderaktionskarten hielten Einzug. Tatsächlich stieg die Zahl der Fahrgäste in drei Jahren um rund 40 Prozent und machte den TüBus 1988 zum erfolgreichsten Nahverkehr bundesweit!

„Ich fahr nicht mit dem TüBus, weil ich der Chauffeur meines Freundes bin, der der Umwelt zuliebe auf ein Auto verzichtet.“
Eine Kampagne 1988 prämierte die besten Ausreden, nicht TüBus zu fahren. Welche hast du?

Mit TüBus-Geschäftsführer Hans Zeutschel schaue ich ins Fotoalbum. Diese Zeit kennt er gut. Da jobbte er als junger Student als Linienbusfahrer bei der Firma Kocher. Und erinnert sich noch an die ersten rot-gelben TüBusse 1987 (sogar an deren Kennzeichen: TÜ-JK 49 und 70). Schon als Kind war er von Bussen fasziniert, hat sie gerne am ZOB beobachtet, durfte sogar mitfahren, als 1978 der erste Gelenkbus für Tübingen abgeholt wurde.

Hans Zeutschel

Er hat viele Erinnerungen an den ZOB: an die große Bahnhofsuhr, an Wartehäuschen, die zeitweise so arg dicht an den Steigen standen, dass Busse öfter mal anstießen und Glas zu Bruch ging. „Je nachdem, ob Kocher- oder Schnaith-Fahrern das passierte, haben wir mitgezählt, nach dem Motto: Es steht 3:2 für Kocher.“ Personen kamen aber nicht zu Schaden. Mit den Jahren wurde es immer voller und unübersichtlicher am Busbahnhof, der ja für viel weniger und viel kleinere Fahrzeuge konzipiert worden war. „Busse, die sich gegenseitig blockierten, Menschen, die überall herumliefen – ein Glück, dass da nicht mehr passiert ist!“

Fünfmal zum Mond und zurück!

Wir springen zurück in die Gegenwart: Seit 1995 führen die Stadtwerke Regie im ÖPNV. Eine gute Sache, denn so kann das Defizit mit den Gewinnen der Energiesparten verrechnet, das Angebot immer besser und die TüBus-Flotte immer umweltfreundlicher werden. Um noch mal ein paar Zahlen zu nennen: Heute bringen rund 80 TüBusse pro Jahr mehr als 20 Millionen Fahrgäste ans Ziel und fahren dabei etwa 4 Millionen Kilometer: fünfmal bis zum Mond und zurück!

Hätte man sich nicht träumen lassen, als das 1927 anfing mit den ersten beiden kleinen Bussle.

13 Elektrobusse sind aktuell in Tübingen unterwegs. Bis 2025 sollen es 57 werden! (Bild: J. Jäger)

Bald sind am ZOB auch die letzten Bauzäune weggeräumt. Ich kann euch nur empfehlen: Schaut mal vorbei! Testet das Fahrgefühl in einem neuen E-Bus, probiert die beeindruckende Fahrrad-Tiefgarage aus oder trinkt einen Kaffee am Anlagensee und denkt über den Wandel der Zeit nach – an diesem Ort, der sich immer wieder ganz neu erfindet.

Zur Geschichte über den großen ZOB-Umbau 2019-2023 geht’s hier!

Spannendes zu Tübingen entdeckt ihr auch in früheren Folgen: Maria-von-Linden-Straße oder Wilhelmstraße

Ein Dankeschön für historische Bilder geht ans Stadtarchiv Tübingen, ans Tagblatt-Archiv, an die Firma Kocher und an die Kollegen Hans und Uli!

Quellen: Mobil für Tübingen. Der TüBus und seine Geschichte. Hrsg. Stadtwerke Tübingen, 2007
90 Jahre Stadtbus, Artikelserie im swt-Kundenmagazin TüWelt 2017
Miriam Plappert, „Affen statt Busse: Einst gab’s einen Zoo beim Bahnhof“ Tagblatt, 23.2.2020

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